2.2
Der Doppelcharakter der warenproduzierenden Arbeit
Die Waren sind Ergebnisse der warenproduzierenden Arbeit, die einen Doppelcharakter hat. Dieser Doppelcharakter der in den Waren enthaltenen Arbeit, den Marx als den „Springpunkt“ zum „Verständnis der politischen Ökonomie“ bezeichnet23, soll im folgenden näher untersucht werden.
Immer ist die menschliche Arbeit bewußte und zweckmäßige Tätigkeit des Menschen, mit deren Hilfe er „seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert“.24
Die menschliche Arbeit ist um viele Jahrtausende älter als die warenproduzierende Arbeit. Die warenproduzierende Arbeit ist eine besondere Erscheinungsform der menschlichen Arbeit. Sie ist an bestimmte gesellschaftliche Existenzbedingungen gebunden.25 Daher tragen Warenproduktion und warenproduzierende Arbeit historischen Charakter. Die menschliche Arbeit wird diesen Charakter als warenproduzierende Arbeit wieder verlieren, wenn die Warenproduktion selbst zu existieren aufhört.
Die Einsicht, daß die warenproduzierende Arbeit eine historisch begrenzte Erscheinungsform der menschlichen Arbeit überhaupt darstellt, ist eine wesentliche Voraussetzung für das Verständnis des Doppelcharakters der in der Ware enthaltenen Arbeit: Der Doppelcharakter der warenproduzierenden Arbeit besteht darin, daß die menschliche Arbeit hier in einer Form geleistet wird, in der sie gleichzeitig als konkrete und abstrakte Arbeit auftritt.
Die konkrete Arbeit ist menschliche Arbeit in einer bestimmten nützlichen Form, die sich von allen anderen Arbeiten qualitativ unterscheidet. Sie bringt die Gebrauchswerte hervor. „Gebrauchswerte können sich nicht als Waren gegenübertreten, wenn nicht qualitativ verschiedne nützliche Arbeiten in ihnen stecken“, schreibt Marx.26 Die konkrete Arbeit ist die Arbeit des Schneiders im Unterschied zu der des Schuhmachers, die des Bäckers im Unterschied zu der des Tischlers usw. Die konkrete Arbeit schafft den Gebrauchswert der Ware. Die konkrete gebrauchswertschaffende Arbeit ist „eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur … zu vermitteln“.27
Zu allen Zeiten, in allen Gesellschaftsformationen ist die Verausgabung konkreter Arbeit notwendig. Die konkrete Arbeit des Menschen formt die in der Natur vorhandenen Stoffe so um, daß sie menschliche Bedürfnisse befriedigen können.
Die Gesamtheit der nützlichen, konkreten Arbeiten, die in einer Gesellschaftsformation geleistet werden, spiegelt den Grad der Entwicklung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung wider. Innerhalb des Doppelcharakters der warenproduzierenden Arbeit ist es daher die konkrete Arbeit, die das Entwicklungsniveau der Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit ausdrückt. Dementsprechend unterscheiden sich alle Tätigkeiten als konkrete Arbeiten vor allem in folgender Hinsicht (womit sie gleichzeitig grundlegende Entwicklungstendenzen der Produktivkräfte zum Ausdruck bringen):
- Ziel und Ergebnis der konkreten Tätigkeiten sind unterschiedliche Gebrauchswerte. Je weiter sich die Gesamtheit der konkreten Arbeiten entwickelt, desto mannigfaltiger ist der stoffliche, gebrauchswertmäßige Reichtum einer Gesellschaft.
- Die zur Ausübung der konkreten Arbeit notwendigen Arbeitsgänge sind unterschiedlich, aber arbeitsteilig miteinander verbunden. Sowohl die Unterschiedlichkeit der Arbeitsgänge als auch die Verzahnung der Arbeitsgänge untereinander nehmen mit der wachsenden Kompliziertheit der konkreten Arbeiten, die in der gesamten Gesellschaft zur Bedürfnisbefriedigung geleistet werden, zu.
- Die bei den einzelnen konkreten Tätigkeiten verwendeten Arbeitsgegenstände – Rohstoffe und Halbfabrikate – sind je nach Zweckbestimmtheit der Arbeit verschieden. Je weiter sich die Gesamtheit der konkreten Tätigkeiten entwickelt, desto unterschiedlicher und vielfältiger werden die Arbeitsgegenstände, die angewendet werden.
- Das Gleiche trifft für die Anwendung der Arbeitsmittel zu. Je nach der konkret zu leistenden Arbeit unterscheiden sich die eingesetzten Werkzeuge, die Maschinen und die sonstigen Produktionsanlagen. Insbesondere Veränderungen in der Anwendung der Arbeitsmittel lassen die wichtige Rolle der konkreten Arbeit bei der Entwicklung der Produktivkräfte und der Arbeitsproduktivität historisch hervortreten.
- Die konkreten Arbeiten unterscheiden sich endlich auch durch die Art und Weise der jeweiligen Verbindung mit der Wissenschaft und durch die Kombination solcher Verbindungen. Mit zunehmender Entwicklung der Arbeitsproduktivität, das heißt mit wachsendem Nutzeffekt der konkreten Arbeit wird die Integration wissenschaftlich-schöpferischer Elemente in die konkreten Tätigkeiten immer mehr zu einem Gradmesser der Entwicklung der Produktivkräfte und zu einer Erscheinungsform der Unterschiede innerhalb der insgesamt von der Gesellschaft geleisteten konkreten, nützlichen Arbeit.
Insgesamt drücken diese Merkmale der konkreten Arbeit aus, daß sich die private Warenwirtschaft gerade durch die wachsende Effektivität und Vielfalt in der Verausgabung der konkreten Arbeit der Warenproduzenten ausdehnt. Marx erklärt dazu nachdrücklich, daß sich der „qualitative Unterschied der nützlichen Arbeiten, welche unabhängig voneinander als Privatgeschäfte selbständiger Produzenten betrieben werden, zu einem vielgliedrigen System, zu einer gesellschaftlichen Teilung der Arbeit“ entwickelt.28
In diesem Sinne ist die sich vertiefende Arbeitsteilung nicht an die Existenz der Warenproduktion gebunden. Umgekehrt setzt jedoch die historisch begrenzte Existenz der Warenproduktion das Vorhandensein der gesellschaftlichen Arbeitsteilung voraus.
Die konkrete Arbeit übt die gesellschaftliche Funktion aus, Gebrauchswerte herzustellen und die verschiedenartigen gesellschaftlichen Bedürfnisse zu befriedigen.
Aber die vielfältigen Bedürfnisse der einzelnen Warenproduzenten können nur gestillt werden, wenn die eigene konkrete Arbeit gegen jede andere Art konkreter Arbeit austauschbar ist. „Die Gleichheit toto coelo (völlig) verschiedner Arbeiten kann nur in einer Abstraktion von ihrer wirklichen Ungleichheit bestehn, in der Reduktion auf den gemeinsamen Charakter, den sie als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, abstrakt menschliche Arbeit, besitzen.“29 Diese abstrakte Arbeit erfüllt die gesellschaftliche Funktion, die verschiedenen Arbeiten miteinander vergleichbar und damit austauschbar zu machen, also die Waren als Werte zu produzieren. Diese Funktion existiert nur unter den Bedingungen der Warenproduktion. Die Arbeit des einzelnen Warenproduzenten ist daher neben der konkreten gleichzeitig auch abstrakte Arbeit, wertschaffende Arbeit.
Die wertbildende Arbeit wird als abstrakte Arbeit bezeichnet, da, wie gesagt, von ihrer konkreten Formbestimmtheit abstrahiert wird. Dabei handelt es sich keineswegs nur um eine gedankliche Konstruktion, sondern vielmehr um einen objektiven Prozeß, der sich immer vollzieht, wenn zwei Waren miteinander verglichen und ausgetauscht werden. Wird zum Beispiel festgestellt, daß ein Rock zwanzig Ellen Leinwand wert ist, so wird nichts anderes festgestellt, als daß in den beiden Warenmengen annähernd die gleichen Mengen (Aspekt der Quantität) unterschiedsloser menschlicher Arbeit (Aspekt der Qualität) enthalten sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich die Warenproduzenten dessen bewußt sind oder nicht. Die verschiedenen Waren, Rock und Leinwand, sind (als Werte) dann nur noch verschiedener Quantität, da sie von gleicher Qualität sind.
Zum Verständnis der abstrakten Arbeit sind zwei Überlegungen notwendig:
Erstens: Die abstrakte Arbeit ist nichts Mystisches, sondern vielmehr eine durchaus materielle Erscheinung. Sie besteht in dem völlig realen und meßbaren Aufwand an menschlicher Arbeit im physiologischen Sinne.
Diese Charakterisierung der abstrakten Arbeit ist jedoch einseitig und so allgemein, daß sie auf jede Arbeit unter allen gesellschaftlichen Verhältnissen zutrifft. Wird die abstrakte Arbeit nur im physiologischen Sinne aufgefaßt, so wird ihr spezifisch gesellschaftlicher und historischer Charakter übersehen oder geleugnet.
Das aber ist gerade die Absicht der bürgerlichen Ökonomen als Verteidiger des Kapitalismus. Sie wollen damit „beweisen“, daß die Produktionsverhältnisse der privaten, insbesondere der kapitalistischen Warenproduktion natürliche und nicht gesellschaftliche Produktionsverhältnisse sind und nicht aufgehoben werden können.
Zweitens: Die abstrakte Arbeit muß daher im Unterschied zur konkreten unbedingt als gesellschaftliche und historische Erscheinung, die nur der Warenproduktion eigen ist, erfaßt werden. Die Verausgabung menschlicher Arbeitskraft im allgemeinen Sinne nimmt nur dann die Gestalt der abstrakten, wertbildenden Arbeit an, wenn, wie dargestellt wurde, ganz bestimmte gesellschaftliche und historisch nur zeitweilig existierende Bedingungen gegeben sind. Die immer mögliche Reduzierung der verschiedenen nützlichen Arbeiten auf die Verausgabung von Muskel-, Hirn- und Nervenkräften schlechthin wird also nur dann zur politökonomischen Kategorie der abstrakten Arbeit, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse erfordern, daß diese allgemeine Verausgabung menschlicher Arbeitskraft zur Bewertung der verschiedenen Produkte herangezogen werden muß, wenn die Produkte sich als Waren austauschen müssen.
Die abstrakte Arbeit ist also die gesellschaftliche Arbeit der privaten Warenproduzenten, die den Wert schafft. Sie ist die gemeinsame gesellschaftliche Substanz (die immer in bestimmter Menge auftritt).30 Die abstrakte Arbeit und der Wert bilden daher ein gesellschaftliches Verhältnis – hier die gesellschaftlichen Beziehungen privater Warenproduzenten.
Dem Wesen nach kann ein Ding, ein Gebrauchswert (unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen) jedoch nur dann Ware sein, wenn es sich um ein Ergebnis menschlicher Arbeit handelt. Ein Gegenstand, der nicht das Produkt menschlicher Arbeit ist, kann keinen Wert haben, das heißt, er kann nicht als Vergegenständlichung eines gewissen Quantums abstrakter Arbeit angesprochen werden. Damit ein Ding Ware ist, muß es Arbeitsprodukt sein. Nur unter dieser Voraussetzung kann sich die konkrete Arbeit als gesellschaftliche Arbeit, als wertschaffende Arbeit darstellen. Unter den Bedingungen der entwickelten Warenproduktion können aber Dinge einen Preis besitzen, die keinen Wert haben, wie zum Beispiel der Boden. Erde und Preis sind unvergleichbare Größen, da die Erde nicht das Produkt der Arbeit ist, schreibt Marx.31
Die Klassiker des Marxismus-Leninismus entdeckten jedoch nicht nur, daß die warenproduzierende Arbeit eine doppelte Existenz besitzt. Sie analysierten vor allem auch den Zusammenhang, die Einheit und die tiefe innere Widersprüchlichkeit des Doppelcharakters der warenproduzierenden Arbeit unter den Bedingungen der einfachen und der kapitalistischen Warenproduktion. Sie entdeckten, daß die in der Ware enthaltene widersprüchliche Einheit zwischen Gebrauchswert und Wert auf der von konkreter und abstrakter Arbeit beruht.
So wie der Gebrauchswert Träger des Wertes ist, so ist auch die konkrete Arbeit Grundlage der abstrakten Arbeit. Die konkrete Arbeit kann sich nur über die abstrakte Arbeit realisieren, und die abstrakte Arbeit kann sich nur realisieren, wenn sich die konkrete Arbeit als Glied der gesellschaftlichen Gesamtarbeit bewährt.32
Für den inneren Zusammenhang zwischen konkreter und abstrakter Arbeit ergibt sich auch, daß die Privatarbeit der Warenproduzenten innerhalb des Austausches und nach vollzogenem Austausch zur Erscheinungsform ihres Gegenteils, der abstrakten Arbeit, der Arbeit in gesellschaftlicher Form, wird.33 Die abstrakte Arbeit ist „der gesellschaftliche Ausdruck der Warenwelt“.34 Sie tritt in der privaten Warenwirtschaft in Form der konkreten Arbeit, der Privatarbeit der Produzenten auf.
Wie Marx zeigt, drückt die Arbeit immer, unabhängig von der bestimmten historisch-konkreten Form, in der sie geleistet wird, ein doppeltes Verhältnis aus: Stets drückt die Arbeit erstens ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Menschen und der Natur aus. Zweitens drückt die Arbeit als zweckmäßige produktive Tätigkeit immer das Zusammenwirken der Menschen untereinander aus. Die menschliche Arbeit als zweckmäßige, bewußte Tätigkeit verkörpert also, unabhängig davon, ob es sich um warenproduzierende Arbeit handelt oder nicht, stets die dialektische Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.35
Was sich im Verlauf der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft ändert, ist die gesellschaftliche Existenzform des grundlegenden dialektischen Widerspruchs zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen: Je nach dem Entwicklungsstand dieses Widerspruchs nimmt die menschliche Arbeit selbst wieder eine besondere gesellschaftliche Existenzform an.
Unter den Bedingungen, wo die Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse einen solchen Stand erreicht hat, daß die gesellschaftliche Arbeitsteilung existiert, sich vertieft und verbreitert hat und gleichzeitig Privateigentum an wichtigen Produktionsmitteln existiert – unter diesen Bedingungen erhält die Arbeit als zweckmäßige bewußte Tätigkeit die Form der warenproduzierenden Arbeit.
Der Doppelcharakter der warenproduzierenden Arbeit drückt innerhalb der einfachen Warenproduktion also auch die widersprüchliche Einheit der gesellschaftlichen Existenzbedingungen dieser historisch ersten Form der privaten Warenwirtschaft aus.
Der in der warenproduzierenden Arbeit enthaltene innere Widerspruch zwischen konkreter und abstrakter Arbeit entfaltet sich im Produktionsprozeß der einfachen Warenproduktion zum Widerspruch zwischen Arbeits- und Wertbildungsprozeß. Im kapitalistischen Produktionsprozeß von Waren entwickelt sich dieser Widerspruch zum antagonistischen Widerspruch zwischen Arbeits- und Verwertungsprozeß.36
Die Marxsche Arbeitswerttheorie und die damit zusammenhängende Entdeckung des Doppelcharakters der warenerzeugenden Arbeit sind, wie einleitend gesagt wurde, von entscheidender Bedeutung für die Aufdeckung der kapitalistischen Ausbeutung und der Entstehung des Mehrwerts.37