RotFuchs 206 – März 2015

Über blauen Dunst und das Selbstbestimmungsrecht
der Deutschen

Zur Legende von der Souveränität der BRD

Prof. Dr. Horst Schneider

Auf der 20. Rosa-Luxemburg-Konferenz zitierte Oskar Lafontaine zwei NATO-Politiker, die bei der Formulierung der Strategie des Paktsystems eine entscheidende Rolle gespielt haben. Der erste NATO-Generalsekretär, Großbritanniens Lord Ismay, formulierte als Aufgabe: „Die NATO ist geschaffen worden, um die Amerikaner drinnen und die Russen draußen zu lassen.“ Zugleich ging es darum, „die Deutschen kleinzuhalten“. Was ist daraus geworden?

Die zweite Äußerung entnahm Lafontaine dem 1997 erschienenen Buch Zbigniew Brzezinskis „Die einzige Weltmacht“. Dort verkündet Washingtons strategischer Planer, Europa sei ein Protektorat der USA, wobei Deutschland die Rolle eines tributpflichtigen Vasallen zudiktiert wird.

In der Bundestagsdebatte vom 18. November 2013, als es um die NSA und Snowden ging, fiel der Satz „Deutschland ist erst dann souverän, wenn es Herrn Snowden anhört, schützt, ihm Asyl gewährt und seinen sicheren Aufenthalt organisiert.“ Folgen wir Gregor Gysis Logik: Die Regierung der BRD verweigert Snowden das Asylrecht und beweist damit, daß sie nicht souverän zu handeln vermag.

Ist die Bundesrepublik Deutschland kein souveräner Staat? Bejubelten nicht die Bonner Politiker schon 1955 beim Eintritt in die NATO und dem Abschluß des „Deutschlandvertrages“ die wiedergewonnene Souveränität, mit der man die staatsrechtliche Nachfolge zu Hitlers 3. Reich zu begründen suchte? Und ist nicht im „Zwei-plus-vier-Vertrag“ der Siegermächte und der beiden deutschen Staaten für jedermann nachlesbar, Deutschland habe „als gleichberechtigtes und souveränes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“? Das ist 26 Jahre her, und man muß prüfen, ob dieser Vertrag nach Treu und Glauben erfüllt wird. So verlangen es das Völkerrecht und der Artikel 25 des (provisorischen) Grundgesetzes.

Indessen: Wie viele Male hat die BRD unter Berufung auf deutsche Sicherheitsinteressen – sogar am Hindukusch – gegen ihre Friedenspflicht verstoßen? Im Koalitionsvertrag von 2013 wird nicht einmal gefordert, die US-Atomwaffen vom Boden der BRD zu entfernen. Wozu braucht dieser Staat die „nukleare Teilhabe“? Als Drohpotential gegenüber Rußland? Kriegführen ist für die BRD längst zu einer „Normalität“ geworden. Inzwischen hat man vergessen, daß in den 80er Jahren auch die SPD erkannte, keines der Menschheitsprobleme sei durch Krieg zu lösen. Wie souverän ist die BRD eigentlich, wenn sie es nicht einmal wagt, einem Verbündeten die Komplizenschaft bei dessen Aggressionen zu verweigern? In jedem Lehrbuch dieses Metiers wird begründet, daß die Achtung der Souveränität ein zwingendes Gebot des Völkerrechts ist. Es besagt, daß ein Staat, der die Souveränität anderer Staaten mißachtet, selbst nicht souverän sein kann.

In jüngster Vergangenheit sind einige Arbeiten erschienen, die den dokumentarischen Beweis erbringen, daß bereits Adenauer die Souveränität der BRD preisgegeben hat. Joseph Foschepoth veröffentlichte 2012 seine Studie „Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik“. Nach seinen Recherchen war die BRD von Beginn an ein „Protektorat des Westens“ und dessen „Frontstaat“. Westliche Geheimdienste kooperierten mit dem BND, um den Post- und Fernmeldeverkehr in und mit der BRD zu überwachen. Der „RotFuchs“ hat darüber berichtet. So spielte die Merkel-Regierung, die sich nach den Enthüllungen Snowdens überrascht und enttäuscht gab, eine Schmierenkomödie. Die Inszenierung wirkte besonders makaber, bedenkt man, mit welcher Inbrunst und geheuchelten Empörung jegliche Überwachungsmaßnahmen der DDR verteufelt wurden. Vom „Spitzelstaat“ war generell die Rede.

Eine andere Recherche trägt den Titel „Staatsgeheimnis Kanzlerakte. Fälschung und Wahrheit“. Sie erschien im Sommer 2012 in der Zeitschrift „Deutsche Geschichte“. Diese Darstellung stützt sich u. a. auf Aussagen eines früheren Chefs des Militärischen Abschirmdienstes (MAD). Seit dem 21. Mai 1949 gibt es einen geheimen Staatsvertrag, der Einschränkungen für die damals noch gar nicht gegründete BRD im vorhinein bis zum Jahre 2099 festlegen soll.

Zu diesem Thema äußerte sich auch der SPD-Politiker Egon Bahr am 8. September 2009 in der Hamburger „Zeit“. Er erinnerte sich, daß Willy Brandt als neugebackener Kanzler das Geheimdokument mit unterschreiben sollte, was ihn sehr wütend gemacht habe.

O-Ton Egon Bahr: „Daß über die geschilderten Realitäten geschwiegen wurde, hat einen einfachen Grund. Es war eine Lebenslüge der alten BRD, mit dem Beitritt zur NATO zu behaupten, wir wären souverän geworden. Die Bundesrepublik und die drei Westmächte hatten 1955 dasselbe Interesse: über die fortdauernde Einschränkung der deutschen Selbstbestimmung nicht zu sprechen.“

Auch nach 1990 blieben viele Vorbehaltsrechte der Alliierten bestehen. Die NATO-Mitgliedschaft, die Stationierung von NATO-Truppen in der BRD, Atomwaffen auf deutschem Boden und andere Tatsachen beweisen, daß weder der „Kanzler der Einheit“ noch „sein Mädchen“ für die Souveränität der BRD und das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen eingetreten sind. Von Volkssouveränität – einer Idee der Französischen Revolution – ganz zu schweigen. In der Frage der Kriegsbeteiligung wird das am allerdeutlichsten. Die Mehrheit der Deutschen ist gegen jede Teilnahme der BRD an „Auslandseinsätzen“, wie Aggressionen inzwischen bezeichnet werden. Doch die Majorität des Bundestages segnet sie ab. Die zuständige Ministerin kann von Interventionen und Kriegsgetümmel gar nicht genug bekommen.

Volkssouveränität erfordert, daß das provisorische Grundgesetz endlich durch eine Verfassung ersetzt wird, an deren Zustandekommen das Volk unmittelbar beteiligt ist und in der das Prinzip der Friedenspflicht verankert wird.

Mit Hilfe von Quislingen in der letzten „Volkskammer der DDR“ wurde seinerzeit der „Beitritt“ nach Artikel 23 durchgesetzt, statt nach Artikel 146 GG das Volk über eine neue Verfassung entscheiden zu lassen. Die BRD ist ein selbsternannter Rechtsstaat, der die Normen des Völkerrechts bricht und das Selbstbestimmungsrecht des eigenen Volkes als wesentliches Element seiner inneren Verfaßtheit außer Kraft setzt. Die Bilanz der „Wiedervereinigung“ ist erschreckend.