RotFuchs 227 – Dezember 2016

Das Weihnachtsmärchen

Erich Weinert

„Was war Ihr erstes Erlebnis, als Sie gefangen wurden?“ fragte ich den Gefreiten Seibert aus Breslau.

„Mein erstes Erlebnis? So komisch das auch klingen mag – ein Weihnachtsmärchen! Im Dezember 1941 war das. Wir hatten Schreckliches durchmachen müssen, die Todeskälte, bis an den Hals im Schnee, die halbe Kompanie schon krepiert und dann der Rückmarsch von Moskau – aber das haben Ihnen schon andere erzählt, daß ich’s nicht noch mal auf­zuwärmen brauche. Ich war MG-Schütze, seit Anfang an dabei. Wie wir uns nun im November ganz ausgepumpt hatten, da war ich so schlapp, daß ich kaum das MG mehr richten konnte: ,Na‘, sagt der Hauptmann, ,Seibert, Sie haben sich gut gehalten, ich verspreche Ihnen zu Weihnachten Urlaub.‘ Aber nun ging’s wie gesagt rückwärts. Statt ins Quartier nach Moskau zu kommen, hieß es, Winterlinie beziehen, im Eisbunker. Ach, hatten die uns angeschissen, von wegen die Russen haben die letzten Reserven ins Feuer geschmissen. Anfang Dezember noch hatte ich meiner Frau eine Karte geschrieben: Weihnachten daheeme!

Und so Mitte Dezember krieg ich noch einen Brief von ihr: Fall ja nicht noch den Russen in die Hände, hier stehen schreckliche Dinge in der Zeitung, was die mit den Gefangenen machen. Lieber wollte sie, daß ich eine Kugel kriege, als daß ich so was durchmachen müßte. Und da uns unsere Offiziere alle Tage solche Foltergeschichten erzählten, hatten wir einen Heidenbammel vor der Gefangennahme. Wenn uns Russen in die Hände fielen, ließ der Hauptmann sie auf der Stelle abknallen, denn die machen es ja mit unseren ebenso, sagte er immer. Und das fanden wir ganz in der Ordnung, wenn uns die Kerle auch oft leid taten.

Zeichnung: Gertrud Zucker

Zeichnung: Gertrud Zucker

Nu, ich sage Ihnen, es war eine schreckliche Zeit; dreimal stand der Tod vor einem: Frost, Kugel oder Gefangenschaft. Das war nun so Mitte Dezember. Einen Abend war Ruhe. Ich geh zum Hauptmann, sage, jetzt möcht ich um den versprochenen Urlaub bitten. ,Sind Sie wahnsinnig?‘ brüllt der mich an, ,kein Mensch mehr da zum MG-Bedienen, und da wollen Sie auf Urlaub?‘

Nun wußte ich aber, daß an demselben Tage ein anderer MG-Schütze auf Urlaub gegangen war, das war aber dem Hauptmann sein Neffe, so ein weechgebackenes Jingerle, wie man bei uns daheeme sagt. Da hat mich doch die Wut gepackt, wo ich schon zwei Finger und einen Fuß angefroren hatte. Also der Weihnachtstraum war aus. Und dann kam der 20. Dezember. Das Datum vergaß ich nie. Wir waren mit unserer MG-Kompanie beim Rückzug­decken auf Flankensicherung, sollten unbemerkt in einem Hohlweg vor einem Wäldchen Stellung beziehen und nur auf Befehl Feuer eröffnen. Wie ich nun da so liege, vor Frost steif wie ein Klippfisch, da kommt mir vom Wäldchen drüben so ein bißchen Tannenduft in die Nase, und auf einmal war mein Weihnachtstraum wieder da. Da packt mich doch auf einmal so eine Raserei und ich gebe in die stille Nacht eine Lage raus, daß alles so rasselt.

Aber das war mein Verhängnis, oder besser mein Glück. Denn auf einmal bricht’s aus dem Wald heraus mit Hurra, und im Nu saßen uns paar Kerlen die Russen auf dem Hals. Ach, leb wohl, mein Weiberl, leb wohl, mein Wuschperl, dacht ich, als so ein langer Russe auf mich niederstürzte. Ich konnte mich gar nicht mehr umbringen, der hatte mich schon gepackt und schleppte mich mit sich. Da kam ein anderer Russe dazu, der sah, wie ich mich losreißen wollte, da sagte er auf deutsch: ,Du Dummkopf, Dir tut doch kein Mensch was!‘ Ich rief: ,Schießt mich doch nieder! Ich will nicht zum Stab!‘ Da sagt der Russe wieder und lacht: ,Du mußt mit, wir wollen Euch doch braten und fressen!‘ Mach nur noch so dumme Witze, dacht ich. Nun kamen wir in ein Dorf. Wir kriegten ein Geschirr heißen Kohl. Kaum ein Mensch kümmerte sich um uns.

Gegen Morgen kam ein Kommissar, er gab uns Zigaretten und fragte uns Verschiedenes. Aber wir trauten dem Frieden nicht. Wir sagten, die Foltereien kommen erst hinten beim Stab. Vormittags brachten sie uns zur Bahnstation. Drei Tage fuhren wir, wußten nicht wohin. Unterwegs dachte ich schweren Herzens an Weihnachten und an Frau und Kind, wie die schreien werden, wenn sie Nachricht kriegen, ich bin vermißt. Endlich einmal gegen Abend halten wir wo an einem kleinen Tannenwald. Da sagt der Landser neben mir: ,Guck mal, die kleinen Christbäume. Heute ist doch Heiligabend.‘ ,Was‘, sag ich, ,Heiligabend?‘ Und da hat’s mich doch so gepackt, daß ich in die Dunkelheit loslaufen wollte, sollten sie doch ruhig hinterherknallen! Aber mein Landser hielt mich fest, ich soll doch keine Dummheiten machen, vielleicht kämen wir dort mit dem Leben davon. Nun trotteten wir durch den niedrigen Wald, und dann standen wir vor einem Haus, sah aus wie ein Kloster. Kommen in einen dämmrigen Flur. Da hör ich, wie welche deutsch sprechen und lachen. Irgendwo spielt einer Klavier. Dann ging’s in ein großes Kellergewölbe, da mußten wir uns duschen und kriegten andere Klamotten. Ich dachte immer, wozu das alles?

Und da kommt ein Landser und sagt, er hätte in einen Saal reingeguckt, da hätte ein Christbaum gestanden. ,Du phantasierst wohl schon‘, sage ich. Und dann mußten wir 40 ins Hauptgebäude zurück. Nu, und da geht eine große Tür auf, und, ich denke, ich bin verrückt geworden, da steht ein riesiger Christbaum, und die Kerzen brennen.

Und die Alten stehen feierlich da und singen: Brüder, zur Sonne! Da hab ich doch laut angefangen zu heulen. Und da kommt ein russischer Kommissar und fragt: ,Warum weinst du? Kannst dich doch eher freuen, daß du gerettet bist!‘ In dem Augenblick hätte ich den Mann umarmen können. Alle hätte ich umarmen können.

Gerettet! Ja, jetzt erst wußte ich, ich bin gerettet. Sehen Sie, das war mein Weihnachtsmärchen. Nun werden wir hier noch mal Weihnachten feiern, noch schöner als letztes Jahr. Ich freue mich schon auf die neuen Landser, wie die staunen werden. Aber das schönste Weihnachten wird dann das nächste sein. Kein Hitler mehr, kein Krieg mehr, und ich lebendig und gesund wieder daheeme bei Muttern.“

(1942)