Überlegungen und Visionen
des 17jährigen Freiburgers Felix H.
Eine ungewöhnliche Abiball-Rede
Die folgende Rede hielt Felix H., ein Abiturient des Wentzinger Gymnasiums in Freiburg, am 27. Juni auf dem Abiball der Schule vor 600 Zuhörern. Mich haben der Mut und die kritische Auseinandersetzung dieses jungen Mannes fasziniert, erlebte ich doch seine Abiturzeit und die seiner Freunde hautnah durch meinen eigenen Sohn mit.
Felix, wenn ich wieder lese, was Du uns so engagiert vorgetragen hast, dann habe ich Hoffnung für uns alle.
Ich stimme Dir vollkommen zu – es kann nicht nur die Aufgabe von Euch Jungen sein, die gerade aus der Schule entlassen werden und denen man zuruft „Rettet unsere Welt!“ Wir „Alten“ haben mindestens genausoviel Verantwortung wie Ihr, wenn nicht noch mehr. Denn schließlich sind wir und unsere Vorgänger dafür verantwortlich, daß Ihr all diesen Mist am Hals habt.
Ich bin unglaublich stolz darauf, daß es Euch kritische junge Menschen gibt!
Dr. Gabi Weber, Freiburg
Im folgenden veröffentlichen wir wesentliche Auszüge aus der Rede.
Ich habe nichts übrig für eine weichgespülte Begrüßungszeremonie und eine darauffolgende nichtssagende Dankesbekundung an Eltern und Lehrer – auch wenn ich weiß, daß ich ohne euch nicht hier stehen würde, niemand von uns. Ich möchte nicht die Hochs und Tiefs einer vergangenen Schulzeit paraphrasieren, sondern mich an meine Mitschüler wenden.
Die durchschnittliche Geburtenrate in Deutschland liegt derzeit bei 1,4 Kindern je Frau, die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt etwa 80 Jahre, Tendenz steigend. Dieser Vorgang nennt sich demographischer Wandel. Soll heißen: Unsere Gesellschaft wird zunehmend älter.
Wir, die wir uns hier versammelt haben, um unsere „Reifeprüfung für den deutschen Durchschnittsbürger“ zu feiern, sind im allgemeinen zwischen 17 und 19. Wir sind oder waren bis vor kurzem Schüler, eine soziale Randgruppe.
2009 wurde in Hamburg eine Schule mit Pausenhof auf dem Dach errichtet – nicht aus Platzmangel, da es sich um ein schwach besiedeltes Wohngebiet handelt, sondern um die Anwohner vor Kinderlärm zu schützen.
Die Chancengleichheit im deutschen Schulsystem ist der Bertelsmann-Stiftung zufolge auch 2013 höchst bedenklich gewesen. Auf den Aufstieg eines Schülers zum Gymnasium kommen 4,2 Schüler, welche die Schule mit einem niedrigeren Bildungsgrad verlassen. Das bedeutet: Unser Bildungssystem ist nur in einer Richtung durchlässig – und zwar nach unten!
Die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft läßt sich an der Art und Weise ablesen, wie sie mit ihrer Jugend umgeht. Denn die Jugend ist die Zukunft der Gesellschaft.
Aber nicht nur die Tatsache, daß wir häufig nicht akzeptiert, als faul und antriebslos bezeichnet werden, sondern daß man uns auch mit den Problemen der Zukunft konfrontiert, ohne uns Hoffnung zu geben, sie lösen zu können, ruft bei einigen – bei mir zumindest – eine erschreckende Lethargie hervor.
Die Welt ist schlecht, vor allem ungerecht!
2011 war der OECD zufolge das kriegreichste Jahr seit 1945. Und 2014 hat die Ungerechtigkeit bei der Verteilung des Reichtums einen neuen Spitzenstand erklommen. Nach der neuesten Oxfam-Studie besitzen die reichsten 85 Menschen so viel wie die ärmsten 10 %. Irgendwo verhungert wahrscheinlich in diesem Moment ein Kind und in den unüberschaubaren Slums Indiens wird eine Frau vergewaltigt. Das sind die Dinge, die man lernt, wenn man in der Schule an der richtigen Stelle zuhört. Und man tut im gleichen Atemzug so, als ob es unsere Aufgabe wäre, diese Welt, die nur noch von Krise zu Krise schlittert, zu retten.
Da widerspricht sich die Schule. Man sagt uns, daß das Leben erst jetzt richtig anfangen wird, jetzt, da wir unser Abitur in der Tasche haben. Aber von diesem Leben will man hier gar nichts mehr wissen. Man hat uns in Formen gepreßt, und alles, was an Elan übriggeblieben ist, verpufft wie Wasser auf einem heißen Stein.
Ich habe die Energie, mit der ich in der 5. Klasse dieses Schulgebäude betrat, den Optimismus, eines Tages als eine Art Superheld die Welt zu verändern und die Euphorie, mit der WIR in die damals kaum zu erwartende Zukunft blickten, in langwierigen Mathestunden abgesessen, in verstaubte Englischbücher hineingelesen und letzten Endes mit dem Abitur vollkommen verloren.
Natürlich könnte man sagen: Erkennen zu müssen, daß man kein Held ist oder sein kann, ist hart, aber Teil des normalen Erwachsenwerdens und nicht Schuld der Schule. Doch wir müssen der Wahrheit ins Gesicht blicken.
Helden werden jetzt gebraucht wie nie zuvor. Helden, die in der Lage sind, uns mit uns selbst zu konfrontieren. Helden der Zukunft, welche nicht auf Schlachtfeldern geboren werden. Helden mit Visionen und Energie, diese umzusetzen, keine zurechtgestutzten, gesellschaftsfähigen Durchschnittsbürger, die zwar alle ein Einser-Abitur haben, aber keine Leidenschaft, sich von ihren Sofas loszulösen und zu beginnen, auch für andere zu leben. Man macht uns Angst. Wer will sich noch ins Licht stellen, wenn man weiß, daß ein Edward Snowden oder ein Bradley Manning von einem Friedensnobelpreisträger gejagt werden und in dem Staat, dem sie am meisten helfen, nämlich der BRD, keine Zuflucht finden.
Also woher sollen die Helden der Zukunft kommen, wo sollen sie ausgebildet werden, wenn nicht in der Schule? Wir jungen Menschen sind die einzige Chance, die dieser Planet und seine Bewohner noch haben.
Unser Planet wird zunehmend von alten Menschen regiert, die in alten Denkstrukturen leben, selbst wenn sie auf dem Papier auch noch unsere Väter sein könnten. Das Internet ist für sie Neuland, Smartphones sind schwerlich zu bedienen, in Textnachrichten sehen sie das Verkommen der menschlichen Sprache und nicht die Renaissance schriftlicher Kommunikation. Doch mein Smartphone beschallt meine Ohren mit Peter Fox’ „Haus am See“ in Dauerschleife, präsentiert mir alles, was ich und die restlichen Jugendlichen von unserer Zukunft noch erwarten, auf einem silbernen Tablett:
„Am Ende der Straße steht ein Haus am See,
orangebraune Blätter liegen auf dem Weg,
ich habe 20 Kinder, meine Frau ist schön,
alle kommen vorbei, ich brauch’ nie rauszugehen.“
Das kann doch nicht alles sein! Wenn wir diesen Standpunkt verlassen wollen, wenn wir wieder mehr erreichen, wenn wir bewegen, leben und verändern wollen, dann müssen wir aufstehen, uns von dem bleichen Licht der uns blendenden Bildschirme lösen, und wenn es die Alten nicht machen, dann müssen wir ihnen die Hände über die Leichen unserer kaputten Träume hinweg reichen.
Liebe Eltern, liebe Schule, das geht an euch!
Ihr seid nicht blind, genau wie wir. Laßt uns gemeinsam die Welt so gerecht formen, wie wir es in der Schule eigentlich beigebracht bekommen haben sollten, und laßt uns gegenseitig vorleben, wie das geht!
Auf jeden Fall nicht in einem Haus am See.
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