Zum neuen Bundeswehr-Weißbuch (1)
Kriegsabenteurer am Werk
Am 13. Juli 2016 wurde das neue Weißbuch zur Zukunft der Bundeswehr veröffentlicht. Nach Festlegung der Verfasser stellt es das „oberste sicherheitspolitische Grundlagendokument Deutschlands“ dar, in dem allerdings die Landesverteidigung selbst so gut wie keine Rolle spielt. Denen, die es vorschnell als einen PR-Coup deklarierten, ist entgegenzuhalten, daß es vielmehr ein besorgniserregendes Dokument ist, das Deutschlands Hegemonialanspruch deutlich macht. Es steht für eine weltweite Interventionspolitik, eine schleichende Militarisierung im Inneren und die Fortsetzung der Rüstungsexporte. Dieses Dokument muß als das betrachtet werden, was es ist: das militärstrategische Konzept des auf globale Expansion setzenden deutschen Imperialismus.
Der aufmerksame Leser bemerkt bald, daß es sich um ein Machwerk voller Widersprüche handelt, in dem nur wenig Konkretes zu finden ist. Zudem fällt ein ungewöhnlicher, befremdlicher und abgehobener Sprachstil auf, der sehr dem des Papiers „Neue Macht, neue Verantwortung“ vom Oktober 2013 ähnelt (siehe RF 197, Juni 2014). Man muß schon zwischen den Zeilen lesen, um des Pudels Kern zu finden. Da es hier nicht möglich ist, auf alle Kapitel des Weißbuchs einzugehen, werden nur die wichtigsten Aussagen einer kritischen Betrachtung unterzogen.
Karikatur: Klaus Stuttmann
An erster Stelle ist der offen erhobene Führungs- und Machtanspruch Deutschlands in Europa und darüber hinaus zu nennen. Behauptet wird, Deutschland werde zunehmend als „zentraler Akteur“ in Europa wahrgenommen. Gefaselt wird vom eigenen Gestaltungsanspruch, den zahlreichen Krisenherden und den gestiegenen Erwartungen an die außen- und sicherheitspolitische Rolle Deutschlands, die eine „Trendwende“ verlangen würden. Danach heißt es, daß man die „globale Ordnung mitgestalten“ wolle und Deutschland bereit sei, „sich früh, entschieden und substantiell als Impulsgeber in die internationale Debatte einzubringen, Verantwortung zu leben und Führung zu übernehmen“. Damit sind die strategischen Prioritäten gesetzt.
Bleibt zu fragen, wie die Bundesrepublik als zentraler Akteur in Europa gesehen wird und ob diese Wahrnehmung auch die Zustimmung der anderen europäischen Staaten findet. Schließlich verbirgt sich dahinter das unverhohlene Streben nach einer Vorreiterrolle und nach Vorherrschaft. Im Weißbuch wird es als „Handlungs- und Gestaltungsanspruch“ umschrieben. Wenn dann behauptet wird, das sicherheitspolitische Selbstverständnis sei geprägt durch die Lehren aus der Geschichte, bleibt offen: Welche Lehren sind denn gemeint? Hat man vergessen, wer den II. Weltkrieg begonnen und unsägliches Leid über die Völker gebracht hat?
Die Festlegungen für eine „strategische Neuausrichtung der Bundeswehr“ zielen eindeutig darauf ab, ihre Fähigkeiten für Auslandseinsätze zu erhöhen. Dazu erklärt das Weißbuch ausdrücklich die Bereitschaft zur Anwendung oder Androhung militärischer Gewalt. Es heißt zwar, „robustes militärisches Eingreifen“ müsse völkerrechtlich legitimiert sein – also kein Einsatz ohne Sicherheitsratsmandat! Doch in Ausnahmefällen müßten „humanitäre Interventionen“ auch ohne Erlaubnis des Sicherheitsrats möglich sein. Solche Einsätze hat es schon mehrfach gegeben. Das im Weißbuch geforderte „globale deutsche militärische Engagement“ stellt de facto eine flagrante Verletzung der im Grundgesetz Artikel 26 (1) vorgesehenen Rolle ihrer Streitkräfte dar.
Vergeblich sucht man eine wissenschaftliche Analyse potentieller oder tatsächlicher Bedrohungen, denen sich Deutschland ausgesetzt sieht. Statt dessen wird behauptet, das Umfeld sei noch komplexer, dynamischer und schwieriger vorhersehbar geworden.
Ein immer wieder strapaziertes Thema ist die sogenannte Resilienz (Widerstandsfähigkeit). Was versteht man darunter, und worum geht es dabei im Kern? Der Begriff stammt ursprünglich aus der Kinderpsychologie und beschreibt die Fähigkeit, Entwicklungskrisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlaß für die weitere Entwicklung zu nutzen. Außer bei Medizinern war dieser Begriff kaum bekannt. Ein Schelm, der dabei an die Verteidigungsministerin denkt. Die Stärkung von Widerstandsfähigkeit des Landes gegenüber aktuellen und zukünftigen Gefährdungen sei von besonderer Bedeutung. Staat, Wirtschaft und Gesellschaft müßten sie erhöhen, um die eigene Handlungsfreiheit zu erhalten und sich gezielt gegen Gefährdungen zur Wehr setzen zu können.
Dieses Getöse geht völlig an den Realitäten des Lebens vorbei, die darin bestehen, daß die anderen europäischen Staaten auch bei Erhöhung ihrer Resilienz komplett kriegsuntauglich bleiben werden. Im Falle eines offenen Konflikts würden selbst konventionelle Kampfhandlungen innerhalb weniger Tage die fragile Infrastruktur der Länder zerstören. Die Energie- und Wasserversorgung, die Kommunikations-, Transport- und Versorgungssysteme und nahezu alles, was die Menschen zum Leben benötigen, würden ausfallen. Doch mit der Erhöhung der Resilienz sollen Kriege generell wieder führbar werden. Damit würde der militärische Faktor erneut als Mittel erster Wahl in die Politik einziehen. Wer mit dieser Art Sicherheitsvorsorge Kriegsgefahren abwenden will, spielt mit dem Feuer und gefährdet den Frieden.
Die Behauptung, die Staaten Europas hätten – gemeinsam mit den Vereinigten Staaten von Amerika – auf dem europäischen Kontinent seit Ende des kalten Krieges eine „einzigartige Friedensordnung“ geschaffen, ist absurd. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Bis zur Auflösung von Warschauer Vertrag und Sowjetunion herrschte in Europa trotz aufgezwungenem Wettrüsten Frieden. Schon kurz danach wurde auf dem Balkan ein verbrecherischer Krieg ausgelöst, unter dem die betroffenen Völker noch heute leiden.
Die dann einsetzende Osterweiterung der NATO hat zu einer anhaltend latenten Kriegsgefahr geführt. Rußland wurde erneut zum Hauptfeind erklärt. Begründet wird das mit der Behauptung, Rußland würde seine Nachbarn bedrohen und habe mit der Sezession der Krim die europäische Friedensordnung offen in Frage gestellt.
Tatsache ist jedoch: Laut UNO-Resolution 2625 (XXV) vom 24. 10. 1970 wird das Sezessionsrecht ausdrücklich anerkannt. Das Selbstbestimmungsrecht des Volkes hat auf jeden Fall Vorrang gegenüber dem Souveränitätsanspruch von Staaten. Kein völkerrechtlicher Vertrag und keine innerstaatliche Verfassung kann das Selbstbestimmungsrecht verbieten. Der Vorwurf, Rußland habe die Friedensordnung in Europa in Frage gestellt, dient nur als Vorwand, um die eigenen Aggressionspläne zu rechtfertigen.
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