RotFuchs 223 – August 2016

Politisches Credo eines früheren Katholiken

Links, wo das Herz schlägt

Theodor Weißenborn

Sommer 1953. Ich bin Unterprimaner und Schüler des Humanistischen Jacobi-Gymnasiums in Düsseldorf. Ein junger, offenbar progressiv denkender Studienassessor übernimmt den Geschichtsunterricht in der Unterprima, holt nach, was sein Vorgänger versäumt hat, und bespricht mit uns das „Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels aus dem Jahr 1848. Wir lesen den Text, und ich bin wie viele meiner Klassenkameraden tief beeindruckt. In gewissem Sinn, meine ich, ist das Manifest mit seinem humanitären Ethos und von tiefer Menschenliebe zeugenden Inhalt auch die Vorwegnahme von Forderungen der erst 50 Jahre später (1898) gegründeten Liga für Menschenrechte.

Wie dem auch sei – das Manifest ist ein Text von hoher Überzeugungskraft. Hinzu kommt, daß ich in einem Alter bin, in dem man sich gern für hehre Ideale begeistert, und soziale Gerechtigkeit ist wahrlich ein Ziel, für das zu leben und zu kämpfen sich lohnt. Kurz: von Stund an weiß ich: Welchen Beruf auch immer ich einmal ausüben werde – ob Lehrer, Arzt, Jurist, Maler, Schriftsteller oder Journalist –, immer werde ich auf der Seite der Ausgebeuteten und Unterdrückten stehen und deren Rechte verteidigen. Eine Alternative hierzu ist nicht in Sicht und wäre aus ethisch-moralischen Gründen auch niemals zu rechtfertigen.

Eine Sternstunde! Ich spüre: Hier wird für mein weiteres Leben eine Weiche gestellt. Ich habe eine Grundsatzentscheidung getroffen, die auf Jahre und Jahrzehnte hinaus meine berufliche Tätigkeit bestimmen wird, bis zum heutigen Tag, bis zu dieser Stunde, in der ich diese Zeilen niederschreibe.

Ich wechsle das Tempus und „beschwöre“ ab jetzt – nicht raunend, sondern klar und deutlich sprechend – das Imperfekt, indem ich hinzufüge, daß ich in meiner Schulzeit (in voller Übereinstimmung mit meiner Begeisterung für den Marxismus) noch ein gläubiger, praktizierender Katholik war. Aber während meiner dann folgenden Studien der Philosophie, Germanistik und Romanistik sowie der medizinischen Psychologie wurde mir nach und nach klar, daß sich eine Sozialisierung der Gesellschaft in den christlichen Ländern wenn überhaupt, so nur gegen den erbitterten Widerstand der katholischen Kirche würde durchsetzen lassen. Die Kirche hatte mit den Faschisten paktiert: mit Mussolini, Franco, Hitler und anderen, zu denen auch der faschistische Regent der Slowakei (ein katholischer Priester!) zählte sowie Ante Pavelic, der Anführer der kroatischen Ustascha-Bewegung, den Pius XII. mehrmals zu seiner politischen Arbeit beglückwünschte. Zu dieser politischen Arbeit gehörte u. a. die Ermordung von 300 000 orthodoxen Serben, weil diese sich weigerten, zum Katholizismus zu konvertieren. Pavelic ließ sie in eine Schlucht treiben und dort mit Maschinengewehren niedermähen. Dabei waren ihm der Erzbischof von Sarajevo (der spätere Kardinal Stepinac) und 14 Dominikaner-Patres behilflich, die alle namentlich bekannt sind. 1945 verhalf Pius XII. Pavelic und anderen Faschisten zur Flucht nach Südamerika.

Ich wußte natürlich, daß hinter all diesen Schandtaten die Angst der Kirche vor den ach so gottlosen Kommunisten stand; daher auch von seiten des Vatikans die Unterdrückung der Befreiungstheologie in den lateinamerikanischen Ländern. (Diese Theologie hat inzwischen einen prominenten Märtyrer: Erzbischof Romero, der in der Kirche, am Altar stehend, von Reaktionären erschossen wurde.)

Zwar hatte Thomas Mann den Antikommunismus als die größte Torheit des 20. Jahrhunderts bezeichnet; doch daß Christen und Kommunisten zusammenarbeiten könnten, weil sie dasselbe Ziel, nämlich soziale Gerechtigkeit, anstreben, kam den Päpsten nicht in den Sinn. Denn: Die Kirche lernt nicht – sie lehrt. Sie hört nicht zu – sie verkündet. Sie ist kein Parlament – sie ist bereits im Vollbesitz der Wahrheit. Einer ihrer Päpste hatte sogar wörtlich gesagt: „Die Demokratie ist eine moderne Geisteskrankheit.“

Noch heute integriert die Kirche lieber Kräfte aus der rechten als aus der linken Hälfte des politischen Spektrums. Und der Vatikan, die letzte noch existierende absolutistische Monarchie, ist der einzige Staat in der Welt, der die Charta der Menschenrechte nicht ratifiziert hat!

Nein, mit einer solchen Organisation wollte ich nichts zu tun haben. Diese eminent reaktionäre Vereinigung konnte ich unmöglich durch meine Mitgliedschaft unterstützen.

Was mich selbst betraf, so hatte die Kirche – diese Organisation, die dem Menschen grundsätzlich das Recht auf Selbstbestimmung abspricht – nie etwas Gescheites für mich getan, hatte mir vielmehr während meiner ganzen Schulzeit hirnrissige Dogmen eingetrichtert, die die Vernunft eines jeden halbwegs klar denkenden Menschen beleidigten, und mir im übrigen mit Schuldgefühlen und Sündenangst das Leben vergällt.

Dies alles mußte ich jetzt abschütteln. Ich tat es und verfuhr dabei gründlich. Ich las Bertrand Russell („Warum ich kein Christ bin“), Sigmund Freud („Die Zukunft einer Illusion“), Erich Fromm („Psychoanalyse und Religion“), wurde Mitglied der Humanistischen Union und bereitete mich auf eine schon lange fällige Entscheidung vor. Im Sommer 1964 war es dann soweit: Ich trat aus der Kirche aus.

Wer der Kirche treu bleibt und am Glauben festhält, weil er Halt sucht, mag das tun. Ich tue es nicht. Ich komme aus erzkatholischer Enge, denke frei und strebe ins Weite.


Ein Autor stellt sich vor

Theodor Weißenborn

1933 in Düsseldorf geboren, freier Autor, Mitglied des P.E.N.-Zentrums Deutschland. Studium der Kunstpädagogik, Philosophie, Germanistik und Romanistik sowie der medizinischen Psychologie in Düsseldorf, Köln, Bonn, Würzburg und Lausanne. 1956 Examen du Degre Superieur de Francais Moderne. Publikation von Romanen, Erzählungen, Hörspielen, Essays und Lyrik im In- und Ausland. Übersetzungen in 26 Sprachen.

Einzelpublikationen in der „Neuen Zürcher Zeitung“, der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der „Welt“, der „Zeit“, im „Merkur“, in „Sinn und Form“, „Konkret“, „Literatur und Kritik“, „Sprache im technischen Zeitalter“, in den „Neuen Deutschen Heften“, der „Neuen Deutschen Literatur“, den „Frankfurter Heften“, der „Deutschen Rundschau“ sowie der Zeitschrift „Augenblick“ und andernorts. Hörspielproduktionen u.a. in Prag, Wien, Zürich, Warschau, Budapest, Paris, Rom, London, Sydney, Toronto, Johannesburg, Helsinki, Ljubljana und Reykjavik.

Auszeichnungen: 1967 Förderpreis für Literatur der Stadt Köln, 1971 Georg-Mackensen-Preis für die beste deutsche Kurzgeschichte, 1990 Hörspielpreis „Der Lautsprecher“, Publikumspreis der Akademie der Künste, Berlin, und (zusammen mit Ingmar Bergman) Nominierung für den Prix Italia.

Die wichtigsten Schriften Weißenborns, darunter die von Günter Helmes herausgegebene sechsbändige Werksausgabe, sind im Carl-Böschen-Verlag, Siegen, erschienen.

„RotFuchs“-Leser besonders interessieren dürfte Weißenborns in der „edition treves“ publizierte bitterernste Sammlung von Briefsatiren: „Die Paten der Raketen“.