Offener Brief an Martin Schulz
Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge wandte sich am 27. Februar mit einem offenen Brief an den Spitzenkandidaten der SPD zur Bundestagswahl, Martin Schulz. Wir dokumentieren diesen Brief leicht gekürzt. Butterwegge war als Parteiloser für Die Linke zur Wahl für das Amt des Bundespräsidenten angetreten.
Lieber Martin Schulz,
kürzlich saßen Sie bei der Bundesversammlung neben mir in der ersten Reihe. Wir haben beide die soziale Gerechtigkeit zum Leitbild unserer politischen Arbeit erhoben, weshalb ich große Hoffnungen hinsichtlich einer Veränderung der Regierungspolitik unseres Landes in Sie setze. Illusionen bezüglich der Wandlungsfähigkeit einer Partei [der SPD], aus der ich 2005 wegen der Agenda 2010, der Hartz-Gesetze und der Tatsache ausgetreten bin, daß sie trotz einer rot-rot-grünen Bundestagsmehrheit und der Möglichkeit einer Regeneration in der Opposition eine große Koalition mit der Union bildete, hege ich gleichwohl nicht. Dadurch maßlos frustrierte Mitglieder und Millionen frühere Wähler der SPD projizieren heute ihre politischen Wunschvorstellungen auf Sie, obwohl sie die Parteiführung in der Vergangenheit immer wieder enttäuscht hat. (...)
Wie mir scheint, haben Sie die wachsende soziale Ungleichheit als Hauptproblem der Gesellschaftsentwicklung erkannt, gehen aber nicht über Andeutungen hinaus, wie die bestehenden Verteilungsverhältnisse korrigiert werden können. Sonst müßten Sie mit Hartz IV auch den Kern des Reformwerks in Frage stellen, das Gerhard Schröder in seiner „Agenda 2010“ genannten Rede begründet hat. Die harten Zumutbarkeitsregelungen und die drakonischen Sanktionen der Jobcenter vor allem für unter 25jährige sind nicht bloß für die Betroffenen entwürdigend, sondern haben auch Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften genötigt, schlechtere Arbeitsbedingungen und niedrigere Löhne zu akzeptieren. Ich bin sehr gespannt auf Ihre Änderungsvorschläge dazu.
Was nützt den Erwerbslosen die von Ihnen ins Gespräch gebrachte Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für Ältere, wenn ein Viertel aller Neuzugänge überhaupt nicht in seinen Genuß kommt und die große Mehrheit der Erwerbslosen bloß noch das Arbeitslosengeld II bezieht?
Im Rahmen des „Hartz IV“ genannten Gesetzespaketes wurde mit der Arbeitslosenhilfe eine den Lebensstandard der Langzeiterwerbslosen noch halbwegs sichernde Lohnersatzleistung, die 53 bzw. (bei Vorhandensein unterhaltsberechtigter Kinder) 57 Prozent des letzten Nettoentgelts betrug, durch eine Lohnergänzungsleistung auf Fürsorgeniveau, das Arbeitslosengeld II, ersetzt. Dies war der mit Abstand schwerste Eingriff in das Arbeits- und Sozialrecht der Bundesrepublik. Dazu kann heute kaum schweigen, wer glaubwürdig für mehr Gerechtigkeit eintritt. (...)
Zusammen mit der Union wären soziale Gerechtigkeit und eine Agenda der Solidarität selbst mit Ihnen als Bundeskanzler nicht zu verwirklichen. Dazu bedarf es vielmehr einer rot-rot-grünen Koalition und einer breiten außerparlamentarischen Bewegung. SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke verbindet das Bekenntnis zu einer solidarischen Bürgerversicherung, die – auf alle geeigneten Versicherungszweige ausgedehnt – den Sozialstaat wieder auf ein festes Fundament stellen und sich als gemeinsame programmatische Plattform einer R2G-Koalition eignen würde. (...)
Mit solidarischen Grüßen
Ihr Christoph Butterwegge
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