Lenins Imperialismus-Definition trifft nicht auf Rußland zu
Putin schränkte nationalen Ausverkauf ein
Rußland, das Kernland der mächtigen Sowjetunion, erlebte durch das Versagen der KPdSU und das Handeln der in ihren Reihen gewachsenen Verräter einen in der bisherigen Geschichte nicht gekannten Niedergang. Unter dem von den imperialistischen Mächten als Demokrat gepriesenen Jelzin verringerte sich das ökonomische Potential des Landes um etwa die Hälfte, das Volkseigentum wurde verschleudert, ein gewaltiger Aderlaß reduzierte das Fachkräftepotential, die sozialen Folgen in Gestalt einer bisher nicht gekannten Massenarmut nahmen katastrophale Ausmaße an, als Militärmacht war Rußland fast bedeutungslos geworden. Alle diese Erscheinungen wurden in ihrer gesellschaftlichen Wirkung nur noch durch einen Faktor übertroffen: die Zersetzung der staatlichen Macht- und Ordnungsstrukturen. Als „der erste demokratische gewählte Präsident Rußlands“ aus dem Amt gejagt wurde, stand die Nation buchstäblich vor dem Bankrott. Was dem deutschen Imperialismus in zwei Anläufen nicht gelang, schien jetzt zum Greifen nahe: eine faktische deutsche Kolonie im Osten.
Putin hat seit 1999 im Grunde genommen nichts weiter getan, als dem nationalen Verrat und dem völligen Ausverkauf des Landes ein Ende zu setzen und dessen Interessen Schritt für Schritt zu entsprechen. Er hat Rußland aus der politischen, ökonomischen und sozialen Zersetzung herausgeholt. Er hat die katastrophalen Folgen des Versagens der KPdSU-Führung aufgefangen und in einer patriotischen Anstrengung die Kolonialisierung des Landes verhindert. Anzunehmen, das unter Jelzin verrottete Rußland sei fast über Nacht eine neue, selbständige imperialistische Macht geworden, ist völlig irreal.
Der Verdacht, die Verhinderung einer solchen Entwicklung sei Putin gänzlich gelungen, ignoriert die Rolle und die Macht des internationalen Finanzkapitals, das die neuen russischen Konjunkturritter (Oligarchen) unter seine Fittiche nahm. Wenn Putin die wilden Privatisierungen zurückgedrängt und den staatskapitalistischen Sektor ausgebaut hat, wurden damit die ökonomischen Rahmenbedingungen für eine Politik der Wahrung nationaler Interessen verbessert.
Was die russischen Oligarchen betrifft, haben sie umständehalber in wenigen Monaten nur das zusammengerafft, wofür ihre deutschen „Amtsbrüder“ viele Jahrzehnte benötigten. Anzunehmen, daß dieser unter Jelzin grassierende Raubritter-Kapitalismus, für den Namen wie Boris Beresowski und Michail Chodorkowski stehen, so etwas wie ein Teil oder der Konkurrent des internationalen Finanzkapitals sein könnte, geht völlig an den imperialistischen Realitäten vorbei. Das funktionierte nur im Sinne einer totalen Unterordnung und des wirtschaftlichen Ausverkaufs des Landes.
Daß Rußland nicht einmal auf den internationalen Kapitalmärkten seine Interessen zu wahren vermochte, wurde bei der Zerschlagung des Bankensystems Zyperns erkennbar, als man erstmals in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte die Bankeinlagen der Kunden (darunter der russischen) zur „Konsolidierung“ requirierte.
Uns geht es um die Bewertung der heutigen Rolle Rußlands hauptsächlich deshalb, um die Frage nach den Kräften des antiimperialistischen Kampfes beantworten zu können, die allein in der Lage wären, dem anscheinend unaufhaltsamen Zug in den Dritten Weltkrieg entgegenzutreten.
Das Problem beginnt damit, daß Lenins Imperialismus-Analyse nicht ernst genommen wird. Die fünf Merkmale des höchsten Stadiums des Kapitalismus haben wir einst gelernt. Heute – wird gesagt – sähe aber alles ganz anders aus als im Jahr 1916. Der Begriff des Finanzkapitals wird verflacht und entstellt, auch durch die Version von der dominierenden Rolle der Finanzmärkte. Doch Lenin liefert noch heute die Grundlagen zur Bestimmung der Strategie und Taktik der revolutionären Kräfte im Kampf gegen den imperialistischen Krieg. Offensichtlich ist die Einsicht abhanden gekommen, daß es sich beim Imperialismus um ein ökonomisch und politisch definiertes Herrschaftssystem handelt. Ein Element dieses Systems ist die wechselseitige Verflechtung der privaten und staatlichen Monopole, wobei „die einen wie die anderen in Wirklichkeit bloß einzelne Glieder in der Kette des imperialistischen Kampfes zwischen den größten Monopolisten um die Teilung der Welt sind“. (S. 255)
Das Finanzkapital ist eine so „entscheidende Macht in allen ökonomischen und in allen internationalen Beziehungen, daß es sich sogar Staaten unterwerfen kann und tatsächlich auch unterwirft, die volle politische Unabhängigkeit genießen“. (S. 264)
„Der Imperialismus bedeutet eine ungeheure Anhäufung von Geldkapital in wenigen Ländern … Die Welt ist in ein Häuflein Wucherstaaten und in eine ungeheure Mehrheit von Schuldnerstaaten gespalten“, schrieb Lenin. (S. 281/282)
„Reaktion auf der ganzen Linie, gleichviel unter welchem politischen System, äußerste Zuspitzung der Gegensätze auf diesem Gebiet – das ist das Ergebnis dieser Tendenzen. Insbesondere verschärfen sich auch die nationale Unterdrückung und der Drang nach Annexionen, d. h. nach Verletzung der nationalen Unabhängigkeit“ (…). (S. 302)
„Typisch für diese Epoche sind nicht nur die beiden Hauptgruppen von Ländern …, sondern auch die verschiedenartigen Formen der abhängigen Länder, die politisch, formal selbständig, in Wirklichkeit aber in ein Netz finanzieller und diplomatischer Abhängigkeit verstrickt sind.“ (S. 267)
Und Lenin schlußfolgert, daß es Beziehungen der Abhängigkeit zwischen einzelnen großen und kleinen Staaten immer gegeben habe, „aber in der Epoche des kapitalistischen Imperialismus werden sie zum allgemeinen System, bilden sie einen Teil der Gesamtheit der Beziehungen bei der ,Aufteilung der Welt‘ und verwandeln sich in Kettenglieder der Operationen des Finanzkapitals“. (S. 268)
Wer glaubt, das heutige Rußland in die Reihe der „größten Monopolisten“ einordnen zu können, hat weder den Charakter des Finanzkapitals noch das politische System des Imperialismus begriffen.
Bei dem hier abgedruckten Text handelt es sich um redaktionell leicht bearbeitete Auszüge aus einem Brief des Autors vom 25. Mai 2014, der an die Vorstände der DKP, der KPD, des Revolutionären Freundschaftsbundes und weiterer Organisationen gerichtet ist.
Er wurde in der Zeitschrift „Theorie und Praxis“ (T & P) in deren Nummer 36 vom Juni 2014 veröffentlicht.
(Alle Seitenangaben beziehen sich auf Band 22 der Werke Lenins, Dietz-Verlag, Berlin 1960.)
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